Genau das habe ich erlebt und davon möchte ich erzählen.
Ich kann zurückgreifen auf einen authentischen Text, denn ich habe mein Erlebnis damals sofort danach aufgeschrieben. Es geht um den Tag, an dem die Grenze zwischen Schöningen und Hötensleben geöffnet wurde. Mein Mann und ich waren mit vielen anderen Menschen dabei. Hier ein Auszug:
„... wir gehen nun der zweiten Kirchturmspitze nach, die wir inzwischen ausgemacht haben. Nach einer Rechtskurve erwei-tert sich die Dorfstraße zu einem Platz. Da liegt sie, die evange-lische Kirche, reizend anzusehen, so ganz anders, als Dorfkir-chen sonst in unserer Gegend. Auffällig ist eine steile Holztrep-pe, die an der Außenwand schräg hinaufführt.
Dann betreten wir die Kirche. Wir sind sprachlos. So etwas hat-ten wir nicht erwartet. Nirgendwo weit und breit in unserer Ge-gend haben wir je so etwas gesehen. Sie ist nur klein, aber ü-ber und über geschmückt mit gedrehten Holzsäulen, Bemalun-gen, Putten in Gold, Rot und Weiß, eine Barockkirche aus dem späten 17. Jahrhundert. Man merkt ihr an, dass sie von ver-schiedenen Renovierungstendenzen verschont geblieben ist. Der Kanzelaltar mit Logenplätzen für die Adelsfamilie ist eben-so unverändert wie die schmalen, steilen, hohen, rot marmorier-ten Bänke, in die man geradezu hinein steigen muss.
Vorne, an dem reich verzierten Altar, ist ein Kirchenvorsteher dabei, den vielen Besuchern etwas über die Geschichte dieser besonderen Kirche zu vermitteln. Ich höre ihm kaum zu, obwohl er seine Sache gut macht. Ich kann eigentlich alles noch gar nicht fassen, was wir in dieser kurzen Zeit erlebt haben. Ich gu-cke um mich herum, den Menschen in die erstaunten, freudi-gen, angerührten Gesichter. Die meisten sind wie wir, über-rascht, hier so ein Kleinod vorzufinden. Immer wieder wird foto-grafiert. Oben auf der Orgelempore macht sich eine Frau zu schaffen. Ob sie orgeln will? Aber es tut sich nichts. Mein Mann, bei uns zu Hause Organist, C-Prüfung, gute Haus-mannskost, fragt mich: „Ob ich mal hochgehe? Schon ist er un-terwegs. Zunächst falsch, denn er musste die schräge Außen-treppe hochsteigen - dann ist er an der Orgel. Er fragt die Frau, sie ist die Ehefrau des Kirchenvorstehers unten: „Können Sie spielen, oder soll ich mal?" „Oh, wenn Sie das machten, das wäre toll." Choralnoten werden hergenommen. Er schwingt sich an die für diese kleine Kirche riesige Orgel und legt los. „Nun danket alle Gott", schallt es durch den Raum, zunächst noch etwas unsicher an dem ungewohnten Instrument, aber dann strahlend und laut. Ob er „Tutti" gedrückt hatte, d.h. alle Regis-ter gleichzeitig? Die Leute unten fallen sofort ein mit Singen, greifen zu den Gesangbüchern und drei Verse erklingen. Nun folgt „Lobe den Herren", wieder drei Verse. Ich merke, dass um mich herum erstaunlich viele Kirchenprofis sind, die Melodien sind den meisten geläufig, vielen auch der Text. "Wohl denen die da wandeln" wird gewünscht, die Gesangbuchnummer dazu genannt. Wir haben inzwischen ein fröhliches aber andächtiges Wunschkonzert. Jemand sagt, allerdings etwas zaghaft, immer wieder „Nr. 129", aber er kommt nicht richtig zum Zuge, bis endlich ein anderer ihm hilft. Mit lauter Stimme ruft er: „129". „Was ist das?", wird von der Orgel zurückgefragt.
„Tut mir auf die schöne Pforte", und wieder erklingt die Orgel und alle singen aus den aufgeschlagenen Gesangbüchern mit. Ich glaube, dieser Wunsch kam von einem DDR-Bürger.Neben mir steht ein Ehepaar, etwa in unserem Alter. Sie singen beide voller Inbrunst mit. Plötzlich lässt sich die Frau in die en-ge Bank fallen, die Tränen laufen ihr über das Gesicht, und sie stammelt immer nur: „Das gibt es doch nicht, das gibt es doch nicht!"
Doch, das gab es an diesem Sonntag, der zu einem Freuden-tag geworden war. Das gab es, dass Menschen aus Ost und West plötzlich eine Gemeinde bildeten, und in Hötensleben ei-ne besondere Art von Gottesdienst feierten, gemeinsam Chorä-le sangen. In diesem Moment trennte uns nichts mehr. Das Tor war aufgestoßen. „Tut mir auf die schöne Pforte" damals 129 in den Gesangbüchern aus beiden Teilen Deutschlands, heute Nr. 166 in allen Evangelischen Gesangbüchern Deutschlands.
Ich weiß sehr wohl, dass heute, 18 Jahre später, vielen Men-schen im Osten wie im Westen die Fröhlichkeit inzwischen ver-gangen ist. „Tut mir auf die schöne Pforte ..."? Man hat den Eindruck, als seien manche Türen wieder zugeschlagen.
Ich will gar nicht nach Erklärungen suchen, ich will Ihnen statt-dessen den Psalm 65 ans Herz legen. Damals in Hötensleben haben wir etwas gespürt von der Gemeinschaft mit Gott, die im Psalm besungen wird. Das möchte ich allen weiter sagen!
Psalm 65
Haben wir nicht Grund zu danken, dass Gott unsere Gebete erhört? (V. 3) Haben wir nicht Grund zu danken, dass Gott uns unsere Sünden vergibt, auch wenn sie uns hart drücken? (V. 4) Haben wir nicht Grund zu danken, dass Gott fröhlich macht was da lebt im Osten wie im Westen? (V. 9) Lieber Gott, wir wollen nicht nur im Angesicht des Furcht einflößenden Boll-werks von einst, der innerdeutschen Mauer, darum bitten, dass wir das Danken nicht vergessen. Dort fällt es uns leicht. Hilf uns, dass wir auch in unserem Alltag deine Nähe wahrnehmen und darüber fröhlich sind, im Osten wie im Westen!Lieder EG 166 Tut mir auf die schöne Pforte EG 322 Nun danket all und bringet Ehr EG 573 In Christus gilt nicht Ost noch West * Seit 1993 wird jedes Jahr am 3. Oktober um 11 Uhr auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle (Güst) in Marienborn ein ökumenischer Bittgottesdienst gegen das Vergessen gefeiert - und das ist gut so. Die Ev. Frauenhilfe gehört mit anderen zum Vorbereitungsteam.